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Brief vom 17. Juli 1855 (nicht sicher lesbar) - Alt-Nassau

Vielgeliebte Geschwister!
(1. Seite des Briefes so gut wie gar nicht leserlich; Text deshalb unsicher und unvollständig, teils auch auf den folgenden Seiten.)
Nachdem ich nun schon länger - über ein Jahr - vergeblich auf Beantwortung meines letzten Briefes gewartet habe, kann ich nun durchaus nicht länger warten, um mich bei Euch nach der Ursache dieser Verzögerung zu erkundigen. Deinen letzten Brief, lieber Carl, v. 10. April 1853 erhielt ich am 8. Mai desselben Jahres und beantwortete ihn am 1. März 1854; ich   denselben die Ostertage...und dessen Beantwortung zu benutzen und hoffe nun seit Pfingsten vergangenen Jahres vergebens auf Antwort. Am 10. März dieses Jahres erhielt ich einen Brief von Bernhard aus Jauer. (Weiter nicht leserlich).
Aber Gott sei Dank, wir haben hier noch nicht das Geringste gelitten, unsere Kolonisten haben fast den ganzen Winter und mit Unterbrechung auch noch jetzt Proviant, der aus dem Inneren Russlands kommt, nach der Krim gefahren, aber die Regierung bezahlt alles und so fehlt es hier nicht an Geld, obgleich der Getreidehandel ins Ausland nicht geht; Militärdurchmarsche haben wir nur im vorigen Jahre gehabt und die Soldaten wurden von den Kolonisten mit Enthusiasmus aufgenommen, gepflegt und zu Wagen weiterbefördert. Und auf den Wunsch der Kolonisten sind einige Tausend Mann, kranke und verwundete Krieger, hierher in Pflege gegeben worden, welche sich die Kolonisten in der Krim abholten, die leicht Verwundeten in je ein Haus einquartiert, die schwer Verwundeten aber in eigens dazu eingerichtete Lazarette untergebracht worden sind, eines dieser Lazarette haben wir hier in Alt-Nassau gehabt, und ich habe dabei als Schreiber auch viel Arbeit, wohl nicht im Lazarette selbst, aber im Spezialamte gehabt, jetzt sind alle gesund nach der Krim zurückgekehrt, und die Tränen dieser gehärteten Krieger sprachen beim Abschiede laut die Dankbarkeit gegen die kolonistische Pflege (aus). (Nicht leserlich) des Asowschen Meeres und Ihr werdet in den Zeitungen von den Zerstörungen, die sie in den friedlichen Handelsstädten dieses Gestades angerichtet, wo sie früher ihr Getreide holten, gehört haben. Obgleich die Grenzen dieses Meeres von Südwest aus bis Ost nicht viel über 100 Werst betragen, so lebt man hier doch ganz ohne Furcht vor den Feinden, nicht etwa, dass man ihnen viel Humanität zurechnet, denn vom Gegenteil spricht laut die Stadt Kertsch, wo hauptsächlich die Engländer mit den Türken wetteiferten, die dortigen Bewohner zu berauben und zu misshandeln, viele dieser Kertscher haben sich, von Allem entblößt, hier in den Kolonien ein Unterkommen gesucht und wo es nötig ist, von der Regierung unterhatten; sondern man glaubt nicht, dass sie es wagen werden, sich Landein zu begeben.
Andere Feinde als diese tauchen jedoch auf, denn seit Kurzem existiert in der Umgegend die Cholera und selbst in der nur 3 Werst von hier entlegenen Central-Kolonie Molotschna sind seit einigen Wochen mehrere Erkrankungen vorgekommen, die sämtlich mit dem Tode endigten, doch unser Leben ist in Gottes Hand, und all unsere Tage sind in sein Buch geschrieben, er weiß uns zu jeder Zeit und an jedem Ort zu finden.
Aber noch nicht genug, noch eine andere Landplage hat uns heimgesucht, dieses ganze Gouvernement nämlich ist übersäet mit Heuschrecken, östlich von hier in einigen Mennoniten-Kolonien, südlich bei Russen und Nogaj-Tataren. Wo die Brut ausgekommen ist, haben sie alles Gras und Getreide rein abgefressen, und obgleich mit allem Kraftaufwand zu ihrer Vertilgung geschritten, so lange sie nicht fliegen konnten, und Millionen mal Millionen getötet wurden, so blieb doch die Menge scheinbar gleich groß, so viele getötet wurden, um so viel größer und gefräßiger wurden von Tag zu Tag die noch Lebenden. Von den Steilen, wo die Brut ausgekommen war, marschierten sie nach allen Richtungen weiter, über Flüsse u(nicht leserlich) alles vor sich her verheerend, erreichten aber dieses Gebiet als Infanterie nicht, dies war ein Glück für unsere Kolonisten, denn Heu, Roggen, Gerste und Hafer konnte hier geerntet werden, bis am 25. Juni a. St. im Osten ganze Schwarme in die Luft aufbrachen, und was so 5 bis 6 Tage anhielt, die aber, sobald sie die Grenzen einer Kolonie erreicht, nach Möglichkeit und unter möglichst großem Geklingel mit Sensen, Lärmen und Schießen von Jung und Alt zu Pferde und zu Fuß weiter expediert wurden, ohne ihnen Rast zu gönnen. Überall gelang dies freilich nicht, denn des Nachts fliegen sie nicht, und wo sie sich abends niedergelassen, fraßen sie am Morgen alles rein weg, dieses Schicksal betraf auch unter anderem unsere Nachbarkolonie Weinau, diese jagten den 26. Juni, den ganzen Tag, tüchtig; am Abend aber kam ein Zug, der sich nicht abweisen ließ, und am Morgen des 27.Juni war ihr ganzer Weizen und noch ein Teil Hafer und Gerste, das noch nicht abgeerntet war, rein abgefressen (nahezu früher 500 Desjatinen oder 1000 Morgen). Alt-Nassau und einige andere Kolonien waren glücklicher, sie bekamen fast den ganzen Weizen ab, wenngleich auch manchen noch sehr grün. Wer so einen Heuschreckenschwarm noch nicht gesehen hat, macht sich keine Vorstellung davon. Ein Zug ist oft 4 bis 5 Werst lang und 7 bis 8 Werst breit und so dicht, dass die Sonne nicht durchscheinen kann, und viele solcher Schwärme, die von weitem aussehen, wie lange schwarze Rauchwolken, konnten wir für Tage rund am Horizont herum, manche näher, manche entfernter, sehen, jetzt hat sie der Nordwind fast alle wieder zurück nach Südost gejagt; wünschenswert wäre es, wenn sie der Wind übers Meer zurückbrächte, damit es nicht aufs Neue (nicht leserlich) Jahr in der Gegend Brut gäbe von diesen ungebetenen Gästen.
Wie hier die Heuschrecken, so sollen im Gouvernement Jekaterinoslaw die Steppen-Mäuse alles verheert haben, die Steppen-Maus ist eine kurzgeschwänzte Maus von der Größe einer Ratte, aber etwas schwerer, lebt in freier Steppe in Löchern (nicht leserlich) und kommt in manchen Gegenden massenweise vor.
Folge dieser Verheerungen und der großen Dürre, die dieses Jahr hier herrscht, hoffen lässt, dass es Kartoffeln und andere Gartengewächse gibt, wäre Hungersnot zu befürchten. Allein infolge des Wertes der Getreideausfuhr seit Beginn des Krieges (nicht leserlich), sind noch ziemliche Weizenvorräte in den Kolonien und der Umgegend, und so dürfen wir auch in dieser Hinsicht nicht verzweifeln.
Außer dass ich und meine Familie gesund und wohl bin, weiß ich Euch nichts zu schreiben, (nicht leserlich) dass die Feinde in der (nicht leserlich) noch keine großen Vorteile (nicht leserlich) und dass sie beim Stürmen am 6./18. d. M. von den Russen gut eins erwischt bekommen haben, werdet Ihr aus den Zeitungen erfahren haben. Nun zum Schlusse bitte ich Euch (nicht leserlich), ja gleich wieder zu schreiben, der Brief aber ist zu frankieren, schreibt mir recht viele Neuigkeiten, hauptsächlich vom Befinden und Ergehen aller meiner Geschwister, Schwägerinnen, Verwandten und Freunden, Kaffenberger nicht zu vergessen und grüßt alle (nicht leserlich) und Bekannte, auch bitte ich, Bernhard von meiner Nachfrage (nicht leserlich) in Kenntnis zu setzen, denn ich habe seinen Brief nicht beantwortet, weil ich immer noch auf den Eurigen gewartet hatte, und jetzt ist es unsicher, weil ich nicht weiß, ob er noch in Jauer ist.
In der Hoffnung, dass Ihr meinen Wunsch bald berücksichtigen werdet, und dass dieses Schreiben Euch alle gesund und wohl antreffen wird, verbleibe ich unter vielen herzlichen Grüßen von meiner Frau und Kindern Euer Euch liebender Bruder
Franz Huth