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Molotschna

Ehemals Prischib genannt, 45 Werst von der Kreisstadt Melitopol, 320 Werst von der Gouvernementsstadt Simferopol und 150 Werst von Jekaterinoslaw entfernt, am Flüßchen Molotschna gelegen, wurde dieser Ort im Jahr 1804 vom Gutsbesitzer Dubinsky mit ungefähr 6500 Dessjatinen Landes gegen Entschädigung eines gleich großen, unweit der Taschtschenak befindlichen Areals zur Ansiedlung abgetreten.

Die in 8 Kolonien verteilten Ansiedler vom Jahr 1805 wählten unter der Leitung des Oberschulzen Ludwig Kircher mit Bewilligung der Behörde das im Mittelpunkt der Ansiedelungen gelegene Prischib zum Hauptort ihres kleinen Bezirks, und der damalige Inspektor, Baron Uexküll, fand für sich und seine Kanzlei in dem ehemaligen Wohngebäude des Dubinsky ein für jene Zeit allen Anforderungen entsprechendes Unterkommen. Bei diesem Gebäude wurde ein Haus für die Gebietsverwaltung errichtet und nur 4 aus Preußisch Polen eingewanderte Familien evangelischer Konfession erhielten in der nächsten Umgebung Ansiedelungsplätze und Wirtschaftsland, weil Seine Exzellenz, Herr Wirklicher Staatsrat Kontenius, damaliger Oberrichter des Jekaterinoslawschen Vormundschaftskontors Prischib für die etwa zu errichtende allgemeine Hauptschäferei bestimmt hatte. Handwerkern, die kein Land beanspruchten, war einstweilen erlaubt, sich hier niederzulassen, was aber aus Mangel an Arbeit wenige sich zu nutze machen konnten. Auch wurde auf der Stelle des heutigen Pastoratsgebäudes ein geräumiges Bethaus für den ganzen Bezirk aus Bindwerk errichtet.

Nach der zweiten Einwanderung im Jahre 1810 wurde durch gepflogene Ratssitzung des Herrn Kontenius mit den Herren Inspektor Sieber, Feldmesser Hausteck und Gebietsvorsteher Walther der Beschluß gefaßt, die allgemeine Schäferei im rechten Winkel westlichen und nördlichen Grenze des Bezirks an dem Steppenfluß Popowaja Balka unweit der damals neu zu gründenden Kolonie Grüntal, zu errichten, Prischib zu einer stärkeren Kolonie zu erheben, dieselbe auch in der Zukunft, weil am passendsten gelegen, als Hauptort zu bestimmen und ihr den Namen Molotschna beizulegen.

Infolge dieses Beschlusses haben sich unter Anführung des Schulzen Georg Fritz noch 11 evangelische und 30 römisch-katholische Familien in Prischib niedergelassen, die teils aus der Umgebung der württembergischen Residenz Stuttgart und der badischen Gegend bei Karlsruh und Mannheim stammten.


Molotschna zählte nur 45 Wirtschaften mit je 60 Dessjatinen, im ganzen 2700 Dessj. Landes. Den Ansiedlern wurde bei ihrer Niederlassung außer den Reise- und Nahrungsgeldern bis zur ersten Ernte im Jahre 1811 durchschnittlich auf jede Wirtschaft 200 Rubel banko nebst Holz zum Bau eines Wohnhauses und der notdürftigen Stallung von der Krone aus der Ansiedelungskasse verabfolgt.

Außerdem wurden einige zurückgekommene oder vielmehr nicht vorwärts gekommene Wirte im Jahre 1813 mit vier Pflügen und vier paar Ochsen aus derselben Kasse unterstützt. Zwei von ihnen aber, bei welchen die Bezirksbehörde Gründe zu haben glaubte, daß auch dies Hilfe vergeblich sein würde, wurden nach Jekaterinoslaw im dortigen Garten auf zweijährige Kronarbeit abgegeben und ihre Wirtschaften anderen zuverlässigen Wirte zugewiesen.
In den Jahren 1815 und 1816 wurden noch mehrere Handwerker, die sich bei ihrer Einwanderung in Jekaterinoslaw niedergelassen und daselbst mehrere tausend Rubel Vorschuß zur Vervollkommnung ihrer Gewerbe erhalten hatten, ohne Land dieser Kolonie zugezählt. Da diese Handwerker ungeachtet des empfangenen Vorschusses wohl z.T. aus eigener Schuld verarmt waren, so wurde ihre Kronsschuld auf die damals vorhandenen Wirtschaften verteilt. Die eigenen Mittel der Einwanderer der ersten und zweiten Ansiedlung bestanden höchsten aus 1000 Thalern, bei vielen nur aus Pferd und Wagen und bei vier Fünfteilen war die Hoffnung allein - freilich verschiedener Art - die Erhalterin ihres Daseins.

Die Molotschna wird durch den Zusammenfluß des Tokmak und des Tschingul am nördlichen Ende der Kolonie Molotschna gebildet, von wo aus sie ihren Lauf nach Süden nehmend die natürlich Grenze zwischen dem Molotschnaer Mennonitenbezirk am linken und dem Molotschnaer Kolonistenbezirk am rechten Ufer befindlich bildet. Das Flüßchen trocknet auch in den dürrsten Sommermonaten nicht aus, während der Tschingul und Tokmak in dürren Jahren kein Wasser haben.

Krebse, Hechte, Barschen und Zugvögel in und an der Molotschna bieten dem Liebhaber nicht selten eine angenehme Erholung und Speise; freilich auch mitunter dem Müßiggänger Gelegenheit, die Zeit zu töten. Das Flüßchen durchschlängelt hier eine Talfläche von ein bis zwei Werst Breite, wovon hier auf das rechte Ufer vom seichten Flußbett bis an das Hochufer des Tales 100 bis 300 Faden kommen. Am Fuße des Talufers, 4 bis 5 Arschin über der Talfläche ist die Kolonie in der Richtung von Nordost nach Südwest angebaut, deren Obstgärten unmittelbar an die Hofräume stoßen und in Vor- und Hintergärten zerfallen.


Hinter der östlichen Seite des sog. Unterdorfes in der Talfläche, wo der Fluß sich dicht an der Mennonitenkolonie Halbstadt und an der Tuchfabrik des Mennoniten Klassen vorbeiwindet, ist im Jahre 1830 auf besonderen Antrag des seligen Herrn Kontenius in Gemeinschaft mit dem damaligen Dorfschulzen Leopold Supper ein Ort zur Anlage einer Obst- und Maulbeerenplantage gewählt und trotz Widerstrebens der Gemeindeglieder zum größten Vorteil der gegenwärtigen Besitzer durchgeführt. Dieser Ort, der ehemals nur zum Weiden der Schweine benutzt wurde und infolge dessen außer seinem öden Anblick nur unbrauchbares Gestrüpp hervorbrachte, wo sich in nächtlicher Stille nur die Werke der Finsternis hineinwagten, gleicht gegenwärtig einem Paradiese. Man muß im Frühling das hohe Ufer besteigen auf welchem die Kirche erbaut ist, um sich in einer Gegend, wo die Naturschönheit weniger andauernd ist, als anderswo, an dem Anblick auf ein ganzes Jahr zu laben. Der Blick schweift weit im Tale hin dem Flüßchen entlang, wo sich Garten an Garten reiht, und verliert sich zuletzt im fernen lazurblauen Nebel, aus welchem die Tannen der allgemeinen Plantage unweit Alt-Nassau auftauchen. Glücklich fühlt sich der Mensch, der, auf flacher öder Steppe aufgewachsen, aber für den Reiz der schönen Natur empfänglich ist, an einem stillen Maimorgen das Gotteshaus besucht, um sich an dem schönen Anblick zu weiden. Tieferschüttert muß er dem Ausruf des Charkower Apothekers Karl Schmiedt zustimmen; «Die Wildnis ist dem Fleiße gewichen, schaut ahnend in die Zukunft! Ich sehe im Geiste aus diesem Tal eine Kultur aufwachsen, die alle bis jetzt von den Ansiedlern gehegten Erwartungen in Nützlichkeit für ihr neues Vaterland zu übertreffen im Stande sein wird!»

Der jetzige Oberschulz Glöckler hat im Jahr 1847 von einem einzigen Baum für 43 Rbl. Birnen verkauft. Auch der Seitenbaum verspricht gute Einnahmen. Obgleich auf dem Dubinskischen Gehöft im Jahr 1804 mehrere Bäume in gutem Wachstum standen und die Natur am Ufer des Tschingul nur auf einigen Stellen der molotschnaer Talfläche Schwarzdorn und anderes Gesträuch hervorbrachte, so verstrichen doch zwei Jahrzehnte, bevor die hiesigen Bewohner sich zur Baumanpflanzung ermuntern ließen. Die Ursache davon waren Armut und Mangel in Sachkenntnis.

Das Land zum Getreidebau, Wiese und Weide befindet sich größtenteils über dem Talufer auf einer Ebene und hat den Charakter der Steppe. Jeder Wirt hat 25 Dessjatinen Land unter dem Pfluge und steht in der Bearbeitung derselben hinter den besten Ackerbauern der ganzen Gegend nicht zurück.

Das bis etwa 300 Fuß hohe Talufer besteht meistenteils aus Sand und Mergelton, an welchem sich hundert Fuß hohe deutliche Spuren eines das ganze Tal bedeckenden Wasserstandes zeigen. Das war wahrscheinlich noch zur Zeit des Herodot, der diese Gegend die möotischen Sümpfe nennt, der Fall. Die Brunnen sind 15 bis 25 Fuß tief und enthalten das vorzüglichste Wasser des ganzen Bezirks. Der Boden der Kolonie Molotschna scheint ein Flußlager zu sein. Die oberste mit Flußsand vermengte Humusschicht ist 1Ѕ Arschin tief, die Unterlage ist Mergelton mit angeflößten Erdarten zum Teil animalischen Ursprungs vermischt, weiter unten stößt man auf Sandsteingerölle. In letzterer Erdschicht fand man an verschiedenen Stellen versteinerte Knochen und bedeutende Stücke versteinerten Eichenholzes, die aus Unachtsamkeit in jener Zeit nicht gewürdigt und gesammelt wurden.

Die Rindviehpest befiel die Kolonie Molotschna im Lauf der Zeit sieben Mal, zuletzt im Jahre 1839. Jedesmal raffte sie durchschnittlich ѕ des gesamten Viehbestandes dahin, welcher Verlust bei den damaligen wohlfeilen Preisen für landwirtschaftliche Erzeugnisse ungleich langsamer und schwerer zu ersetzen war, als in der Gegenwart.

Außer mäßigem Scharlach und Masernepidemien sind keine verheerenden Krankheiten vorgekommen, außer daß die Bewohner der am nördlichen Ende des Tschingul gelegenen Straße früher je und je von einem hartnäckigen kalten Fieber befallen wurden, während die übrigen Bewohner Prischibs damit verschont blieben. Gegenwärtig ist die Krankheit verschwunden, was Schreiber dieses auf den Einfluß der hier gepflanzten Obstgärten zurückzuführen geneigt ist.



In Prischib sind bereits 10 Häuser von gebrannten Ziegeln, einige mit Dachpfannenbedeckung, aufgeführt und 12 im Bau begriffen. An öffentlichen Gebäuden besitzt die Gemeinde:

  1. ein evangelisches Schulhaus im Mittelpunkt des Orts von Luftziegeln im gewöhnlichen Stil hoch gebaut und geräumig mit einer Abteilung als Lehrerwohnung.
  2. ein katholisches Schulhaus, ebenso gebaut und mit 2 Glocken versehen, welche die Gemeinde morgens, mittags und abends zum Gebete mahnt, die Jugend zur Schule und die Bewohner sonntäglich zum Besuch der Gottesdienste mahnt. Auch zeigen die Glocken durch eigentümliches, jedem verständliches Geläute an, wenn ein Mitglied mit Tode abgegangen ist.
  3. zwei hölzerne Getreidemagazine zur Aufbewahrung von Vorräten für teure Zeiten.
  4. das Inspektionsgebäude im Mittelpunkt an der Straße mit 8 Faden Front von gebrannten Ziegeln auf Feldsteinfundament, geräumig, gut dauerhaft, mit Bedachung von Eisenblech, im Jahre 1840 in Gemeinschaft mit den Mennoniten und berdjansker Kolonisten auf Rechnung der Gemeindesummen neu erbaut mit zwei Wirtschaftsgebäuden versehen. Dabei ist eine halbe Dessj. Gartenland mit verschiedenen Obstbäumen bepflanzt, welche sich der besonderen Pflege und Sorgfalt des Herrn Inspektors Pelschmeier erfreuen.
  5. das Amtshaus dem Inspektionsplatze sich anschließend mit 8 Faden Front an der Straße, worin das Gebietsamt seine Schriftführung plaziert und Amtsverhandlungen pflegt, im Jahre 1836 auf alter Stelle von Luftziegeln im gewöhnlichen Stil, gegenwärtig mit Dachpfannen gedeckt vom damaligen Oberschulzen Werner auf Rechnung der Gemeindesumme erbaut.
  6. die Schreiberwohnung an derselben Straße der nördlichen Reihe mit 10 Faden Front im gewöhnlichen Stil von Luftziegeln mit Strohbedachung in zwei geräumigen Abteilungen an der alten Stelle vom Oberschulzen Glöckler mit außerordentlichen ökonomischen Hilfsmitteln im Jahre 1839 erbaut, wird von den Schriftführern des Gebietsamtes bewohnt.
  7. die Hauptschule im Jahre 1844 erbaut an der nördlichen Straßenreihe in schräger Richtung dem Amtshause gegenüber mit Dachpfannenbedeckung hoch und geräumig für 60 Zöglinge berechnet. Dieses Gebäude ist vom hiesigen Kolonisten und Gutsbesitzer Friedrich Fein, Eigentümer mehrerer Schäfereien hochedler spanischer Rasse und außerordentliches Mitglied des Landwirtschaftlichen Vereins des Molotschnaer Kolonistenbezirks, als Geschenk für die fähigere Jugend gestiftet worden. Da die von vielen sehnlichst erwartete Eröffnung der Schule noch nicht erfolgt ist, so wird das Gebäude gegenwärtig vom Arzt bewohnt.
  8. die Apotheke wurde im Jahre 1840 vom Provisor Podstowsky mit Erlaubnis der Behörde gegründet, wodurch er einem schon viele Jahre gehegten Wunsch der hiesigen Ansiedler entgegenkam, welche ihm auch die Bewilligung zum Ankauf eines Hausplatzes gaben. Allem Anschein nach hat sich derselbe gut gefunden, trat aber aus Spekulation im Jahre 1846 die Apotheke an Herrn Müller ab, welcher sie in Ordnung gesetzt hat und zur allgemeinen Zufriedenheit führt.
  9. vier Krambuden von hiesigen Landwirten errichtet, die unter dem Schutze dritter Gilde Schnittwaren und andere dem Landmann nötige Kleinigkeiten feil halten. An einer zweckmäßigen Kolonialwarenhandlung fehlt es leider noch, obwohl die Mittel, eine solche zu errichten, vorhanden wären.
  10. öffentliche, dem Bezirk angehörende Brücken führen: a) über den Tschingul zum Verkehr mit Tokmak und den Kolonien, welche oberhalb des Tschingul und Gurkulak belegen sind, b) über die Molotschna zwecks Kommunikation mit den am linken Ufer des Flusses befindlichen Mennonitenkolonien, welche auch am Bau und Unterhalt derselben beteiligt sind.
  11. ein evangelisches Pastorat und eine von der Krone erbaute Kirche.
  12. eine Windmühle, eine Ölmühle und eine Ziegelhütte können der vorhandenen Nachfrage lange nicht Genüge leisten. Drei Schmiede, 2 Wagner, 6 Tischler, 10 Schuster, 4 Schneider, 1 Schlosser, 2 Drechsler und 1 Töpfer sind hinlänglich beschäftigt und haben ein gutes Auskommen.

Gegenwärtig besteht die Kolonie Molotschna aus 45 Wirtschaften, worunter nur noch 8 von Katholiken besetzt sind, die übrigen 22 haben sich im Lauf der Zeit in Kolonien ihrer Konfession eingetauscht oder ihr Land verkauft, und aus 37 Freihäusern ohne Land, von Handwerkern, Tagelöhnern und Handeltreibenden bewohnt. Die Kolonie zählt 115 Familien mit 959 Seelen, 519 mehr als bei der Einwanderung 1809. Das der Kolonie Molotschna bei der Übersiedlung Neudorfs im Jahre 1833 zugeteilte Land, in 360 Dessjatinen bestehend, zum Vorteil der Gewerbetreibenden wird bis jetzt noch von den Wirten dieser Kolonie gegen eine mäßige Pacht benutzt.

Schulz Hein.

Beisitzer Zöngler.

Erstveröffentlichung in «Jahrbuch des Landwirt für das Jahr 1913», Eugenfeld, 1912

Orthographie und interpunktion des Originals wurden beibehalten.