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Auswanderung der deutschen Kolonisten aus Russland und Ukraine bis 1931

 

Als Beginn der zunehmenden Abwanderung der deutschstämmigen Kolonisten aus Ukraine und Russland kann man die Jahre 1870-1874 betrachten, als unter dem Zar Alexander II die Russifizierungspolitik und allgemeine Wehrpflicht eingeführt und die Kolonistenprivilegien und Selbstverwaltung der deutschen Kolonien zunehmend beschnitten wurden.

Die Mennoniten und andere Glaubensgemeinschaften, bei denen das Militärdienst mit ihren Glaubensgrundsätzen nicht vereinbar war, begannen nach Nord- und Südamerika auszuwandern. Und auch so manche deutsche Katholiken und Lutheraner sahen aufgrund der antideutschen Propaganda und damit verbundenen Gesetzesänderungen im Russischen Imperium keine Zukunft mehr. Auch nach Oktoberrevolution 1917 und unter der Sowjetischer Regierung ging die Abwanderung weiter, da der Friedensvertrag von Brest-Litowsk auch Rückkehr der deutschen Staatsangehörigen und ihrer Familien ins Reich garantierten. Der Bürgerkrieg 1917-1919 und die Hungersnöte 1922 und 1924 trugen der Abwanderung bei. Den Höhepunkt der Abwanderung stellen die Jahre 1929-1930, da 1928 der neue 5-Jahresplan angeordnet wurde und Enteignung und «Entkulakisierung» reicher und mittelständischer Bauern und Eigentümer begonnen hat.



Im Jahr 1929 fuhren einige Mennoniten aus Slawgorod in Sibirien nach Moskau um eine Ausreise aus der Sowjetunion zu erlangen. Nach langen Verhandlungen durften sie nach Kanada ausreisen. Die Nachricht über gelungene Ausreise verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Deutschen in Sibirien und Ukraine. Viele Deutsche ließen ihr Hab und Gut liegen und fuhren nach Moskau, in der Hoffnung eine Ausreisegenehmigung zu bekommen. So versammelten sich im Winter 1929/30 bis zu 15 000, nach manchen Angaben bis zu 20 000 deutschen Ansiedler, hauptsächlich Mennoniten, die eine Ausreisegenehmigung verlangten. Daraufhin sperrten die Sowjets alle Zufahrtswege nach Moskau ab, alle Ausreisewillige wurden verhaftet und unter Zwang „freiwillig“ zurück in ihre Siedlungsgebiete abtransportiert. In den darauffolgenden Repressionsjahren hat dies vielen daran beteiligten Ausreisewilligen das Leben gekostet. Die legale Möglichkeiten zur Ausreise wurden danach drastisch eingeschränkt so das für viele nur illegale Wege zu Flucht möglich waren. In den Grenzregionen zu China begann die Flücht über die Grenze. In dem Ussuri-Gebiet haben manchmal ganze Dörfer heimlich in langen Trecks den zugefrorenen Amur-Fluß, das die Grenze zur China darstellte, überquert.



Es entstanden viele Organisationen, die Flüchtlinge betreuten und ihre Weiterreise unterstützten. Zum Beispiel Reichsausschuss «Brüder in Not» unter der Führung des deutschen Roten Kreuzes. Deutsche Regierung ernannte den Reichstagsabgeordneten Daniel Stücklen zur Reichskommissar für Deutsch-Russen-Hilfe.

Schon 1920 entstanden Durchgangslager (abgekürzt Dulag) für Flüchtlinge aus der Sowjetunion, zum Beispiel in Lech bei Augsburg auf dem Gelände des ehemaligen Truppenübungsplatzes. Auch wenn die Mehrheit der Flüchtlinge mennonitischer Glaubensgemeinschaft angehörten, waren auch andere Religionsrichtungen zahlreich vertreten. So wurden in Lech separate Betthäuser für Mennoniten, Katholiken und Lutheraner eingerichtet.

Da die meisten Flüchtlinge nach Süd- und Nordamerika weiter zogen, entstanden viele solcher Durchgangslager in der Nähe der Übersee-Häfen Bremen und Hamburg. Solch ein Lager gab es zum Beispiel in der Stadt Mölln, wo im Jahr 1930 um 1200 Flüchtlinge wohnten. Fast alle sind noch im Laufe des Jahres die Reise nach Brasilien und Kanada angetreten. Um die 300 Russlanddeutschen wurden auch auf den Gütern in Suckwitz und Schossin angesiedelt. Auf dem Alten Friedhof in Mölln existiert noch ein Denkmal, der an die 22 in Mölln verstorbene Flüchtlinge erinnert.

Bis zur Ende des Zweiten Weltkrieges versuchte der Deutscher Auslandsinstitut (DAI) die deutschstämmige Bevölkerung in Ausland in ihren Karteien zu erfassen. Ein Teil dieser Karteien ist noch in verschiedenen Archiven vorhanden und wurde von der Kirche Jesu Christi der heiligen der letzten Tage mit der Zentrale in Solt Lake Sity verfilmt. Im Film 1340060 sind Teile der Auswandererkarteien erfasst (Auswandererkartei aus Russland 1929-1930 (Item 1); Auswandererkartei aus Bessarabien 1901-1910 (Item 2) und Auswandererkartei aus Russland nach China (Item 4).



Die Geschichte der Auswanderung der deutschen Kolonisten aus Russland und Ukraine wurde in wissenschaftlicher Literatur ausführlich behandelt. Zum Beispiel in der Diplomarbeit «Die Emigration der Mennoniten aus der Sowjetunion» von Charlotte Thausing, Uni Wien.

http://othes.univie.ac.at/9986/1/2010-05-14_0407594.pdf

Auch wenn sich diese Arbeit mit Mennoniten beschäftigt, sind darin beschriebene geschichtliche Tatsachen auch für alle andere deutsche Kolonisten in der Sowjetunion zutreffend. Empfehlenswert ist auch das Buch von Jochen Oltmer «Migration und Politik in der Weimarer Republik».

Hier noch ein Link zu einem Artikel über den Lager in der Stadt Mölln:

http://www.ornis-press.de/eine-kurze-bleibe.1566.0.html