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Brief vom 13. Juli 1846 - Tokmak

Vielgeliebte Mutter und Geschwister!
Lange schon werdet Ihr vergeblich von mir auf Nachricht gewartet haben, und wahr ist es, ich hatte Euch schon lange schreiben können, ich muss mir darüber jetzt selbst Vorwürfe machen, allein es ging mir fast wie Dir, lieber Bruder, mit Deinem vorigen Briefe, ich wollte auch immer noch mehrere Neuigkeiten zusammenkommen lassen, und so verzog es sich von einer Zeit zur anderen. Wenn Euch dieser Brief insgesamt gesund und wohl antrifft, so werde ich mich auch darüber beruhigen. Zuerst liebe Mutter und Geschwister muss ich Euch benachrichtigen, dass am vergangenen Freitag, als den 5. April, morgens meine Frau von einem gesunden und schönen Knaben glücklich entbunden wurde, welcher am Himmelfahrtstag darauf in der Kirche zu Prischib die heilige Taufe mit derselben die Namen Carl Robert erhielt. Gestern war er schon 14 Wochen alt, er ist fromm und gut, dabei dick und fett; von wegen dem tüchtigen Jungen, wie Du mir lieber Bruder in Deinem ersten Briefe schreibst, kann ich mir nun auch dicktun.
Auch muss ich Euch benachrichtigen, dass wir hier vergangenes Jahr eine gänzliche Missernte hatten. Gleich in der Ernte stieg der Getreidepreis um 2/3 und behielt den Preis bis jetzt ziemlich bei. Dies hatte den Handwerkern hier nichts gemacht, der Preis war noch nicht so hoch als bei Euch in der wohlfeilsten Zeit, allein mit der Missernte trat auch zugleich ein gänzliches Stocken in allen Fächern ein, welches leicht erklärbar ist, weil hier alles von den Bauern lebt. Dieses ganze Frühjahr nun hatten wir hier die herrlichsten Aussichten zu einer recht segensreichen Ernte. Der Regen, an dem es hier so sehr oft fehlt u. den der hiesige Boden so viel braucht, stellte sich zur gehörigen Zeit ein und schon reifte das Getreide der mühenden Sense entgegen, als sich hier ein allgemeiner Schrecken verbreitete. Nämlich in der geringen Entfernung von 50 Werst (Meilen) fanden sich große Heuschreckenzüge ein, und unsere lieben Deutschen hier, die schon ausgiebig die Gefräßigkeit dieser ungebetenen Gäste kennen, hegten daher nicht umsonst bange Besorgnisse. Gott verschonte uns diesmal von dieser Landplage; die Tiere nahmen ihren Marsch in andere Gegenden, und jetzt ist nichts mehr zu befürchten, denn alles Getreide, etwas Weizen (folgt unleserliches Wort) steht schon in Haufen, und einer besseren Ernte wissen sich die Deutschen hier nicht zu erinnern als die diesjährige ist. Um Euch einen Begriff von der Menge der Heuschrecken, die zu Zeiten einfallen, zu machen, muss ich bemerken, dass nach Aussage hiesiger Männer, bei Ankunft solcher die Luft sich verdunkelt, dass die Sonne am Himmel nicht mehr zu sehen ist. Seit die Deutschen hier wohnen, wurde einmal die hiesige Gegend 7 Jahre hinter einander, ein Jahr mehr, das andere weniger, von diesen Tieren heimgesucht, wobei sie aber ein Jahr alles mit Strunk und Stiel auffraßen. Vor vier Jahren fiel die etwas kleinere und weniger gefräßige Sorte hier ein. Zur Vertilgung mussten auf obrigkeitliche Verordnung jede zum Tokmaker Gebiet gehörige kopfsteuerpflichtige Seele - unleserlich - (114 Scheffel) liefern. Tokmak mit seinen Kuttern (Vorwerken), welche auch so groß als unsere Dörfer sind, zählt 18000 Seelen.
Die Kolonisten hingegen suchten sie auf ihrem Gebiet mit einer großen Walze zu vertilgen Auf vielen Stellen sollen sie eine halbe Elle hoch gelegen haben.
Vergangenen Winter starben hier in Tokmak 500 erwachsene Menschen an einer nur den gemeinen Russen eigentümlichen Krankheit, und gegen 900 Kinder an den natürlichen Plattem. Das Impfen, welches kaiserliches Gesetz ist, wird nur wenig befolgt. Auf Forderung von der Regierung zu folgen haben sich 300 Bauern gemeldet, welche Tokmak verlassen wollten, um sich am Kaukasus anzusiedeln. Wie es heißt, soll das Kreisgericht von Berdjansk hierher verlegt werden und Tokmak zur Kreisstadt erhoben werden. Tokmak hat einen schönen Marktplatz und es ziehen sich, seiner vortrefflichen Lage in Mitten der deutschen Kolonien wegen, immer mehr Kaufleute hierher.
Der Friedebacher Seiler, von dem Du mir, lieber Bruder, schreibst, hat hier noch nicht von sich hören lassen. Vielleicht hat er unterwegs ein Plätzchen gefunden, wo er bleiben will. Indes hat sich ein anderer, ein Alt-Preuß, hier eingefunden. Auch mein Reisekollege in Brückenau hat seinen Plan, nach Hause zu reisen, aufgegeben und bleibt nun hier; ist aber noch nicht verheiratet. Den in Deinen Briefen erwähnten Schneider Schönheit habe ich in seiner Tür stehen sehen, ohne seine Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich wusste, dass es ein naher Landsmann war, allein solche Leute werden in Moskau viel von Stromern, die sich in Russland genug herumtreiben, belästigt, und um nicht als ein solcher zu erscheinen, blieb ich davon. Den einen von seinen Bruders Söhnen, welcher lange Zeit Zuschneider bei ihm war, habe ich besucht.
Herzlich freute ich mich über das Glück unseres Bruders Louis und wünschte nur, jedes meiner Geschwister möchte einen so sorgsamen Großvater haben wie der Louis.
Lieber Bruder, wenn Du mir wieder schreibst, schreibe mir doch die Umstände der Geschwister Herrmann, Albert, Theodor und Gustav Heinerke. Ist der Herrmann noch nicht verheiratet, wo steckt der Albert; grüße sie insgesamt aufs freundschaftlichste von mir.
Wie geht’s mit Gerhards, lebt die alte Rothen noch. Gerhard seine Mädchen werden bald groß sein. Herzlich wünschte ich, einmal bei Euch sein zu können, aber darauf muss ich noch verzichten, obgleich ich die Hoffnung nicht ganz aufgebe. Schreibe, wenn Du mir wieder schreibst, viele Neuigkeiten. Nun, lieber Bruder, eine Bitte, da, wie es heißt, jeder in Russland sich aufhaltender Ausländer mit einem Heimatschein versehen sein soll, so ersuche ich Euch, lieben Brüder, wenn es Euch nicht zu viele Umstände macht, auch keine Geldkosten verursachen sollte, mir einen Heimat- oder Schutzschein auszuwirken und ihn mir im nächsten Brief mitzuschicken. Sollte das Euch aber viele Umstände oder Geldkosten verursachen, so bemüht Euch nicht. Schreibt mir bald wieder, ich werde mich dann selbst schriftlich an den Herzog wenden und ihn mir erbitten. Nun lieber Bruder Carl, bevor ich schließe, noch etwas, was mir lange schon auf dem Herzen liegt: Schreibe mir doch recht getreu, in welchen Umständen lebt die gute Mutter? Wohnt sie noch für sich oder ist sie bei einem von Euch? Leidet sie vielleicht auch an etwas Mangel? Du wirst mir diese Fragen verzeihen, lieber Bruder, Tränen rollen mir bei diesem Gedanken über die Wangen, doch Eure gute Sinnesart wird es nicht zulassen. Längst schon wäre es für mich Zeit, etwas für die Mutter zu tun, allein (nach dem) Verheiraten fehlte noch so viel in der Wirtschaft, woran ich früher nicht dachte, dass ich noch nicht fertig wurde mit Anschaffen und kam noch das schlechte Jahr. Doch jetzt ist hier schon wieder ein regeres Leben und mit Gottes Hütte wird noch alles besser werden.
In der Hoffnung, dass Euch dieser Brief alle im besten Wohlergehen antrifft, verbleibe ich und meine Frau, alle Schwäger und Schwägerinnen, Verwandte und Freunde vielmals grüßend Euer Euch liebender Sohn und Bruder Franz Huth und Schwiegertochter und Schwägerin Elisabeth. Besonderen Gruß an Schwägerin Katharina.
F. Huth
Meine Adresse bleibt wie früher nur die Worte „dem Kronsdorfe“ bitte ich wegzulassen.