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Brief vom 4./15. Februar 1851 - Alt-Nassau

Vielgeliebte Geschwister!
Ihr werdet wohl schon sehr besorgt um mich gewesen sein, oder gar eine schlechte Meinung von mir gefasst haben, weil ich Euch so lange auf Antwort habe warten lassen, denke, dass Bruder Carl hoffte schon zu Ostern auf Antwort und jetzt ist schon Weinachten vorbei und ich habe immer noch nicht geschrieben, die Umstande waren folgende:
Meine Frau sah ihrer Niederkunft entgegen, diese wollte ich vor meinem Schreiben erst noch abwarten, damit ich Euch gleich von dem Segen, der mir zuteilt würde, in Kenntnis setzen könnte, dieses verzog sich nun freilich noch bis zum 17. Juni, wo wir mit einer jungen Tochter gesegnet wurden, welche in der Taufe die Namen Florentine Albine erhielt, nun sollte es frisch ans Werk gehen, da wurde in dem hiesigen Reiche eine neue Revision (Volkszahlung) aufgenommen, und ich als Dorfschreiber hatte alle Hände voll zu tun, und mein Briefschreiben wurde hintangesetzt; so verging wieder eine geraume Zeit, dann wurde ich infolge einer Erhitzung krank. Dies war Mitte August, ich hatte das Fieber, ebenso lag auch die Magd danieder, und meine Frau und die Kinder hatten so schlimme Augen, dass sie eine Zeitlang ganz blind waren, diese schlimmen Augen grassierten hier sehr und waren wahrscheinlich die Folge allzu trockener Luft, alles erholte sich wieder, die Magd genas, dann die Kinder und meine Frau, nur ich lag bis im Herbst, bis zum Oktober, und hatte fast den ganzen Winter zu tun, ehe ich mich wieder recht erholte; jetzt bin ich so !eidlich gesund und mit dem herannahenden Frühling wird es noch besser werden, daher konnte ich nun auch nicht langer verziehen, um Euch hiervon zu benachrichtigen, im Übrigen geht es immer noch gut bei uns trotzdem drei hier aufeinanderfolgten Missernten, wo alles teuer, das Geld knapp ist und alle Geschäfte stocken. Mein Dienst sicherte mich bisher vor jeden Mangel, ich bekomme Getreide im Überfluss, ich habe jedes Jahr noch für 60 Rubel verkauft, ich habe 3 Kühe, da gibt es Milch und Butter genug, Schweine im Herbst zum Schlachten ziehe ich jedes Jahr selbst auf, Hühner habe ich ebenfalls etliche 30 Stück über Winter, nur für Kleider, Kaffee, Zucker und sonstige Luxusartikel habe ich Ausgaben, meinem Reisekollegen, dem Seiler Moritz Lohse welcher hier in der Nahe ebenfalls verheiratet ist, aber nur auf seine Seilerei angewiesen ist, geht es wie vielen anderen nicht zum Besten, ich habe ihn schon von Zeit her mit Getreide und Mehl unterstützt, aber ganz unterhalten kann ich ihn auch nicht, wenn man hier so sparsam zu leben gewohnt wäre wie bei Euch, so könnte man hier manches ersparen. Ihr werdet Euch wohl wundem, wenn ich Euch schreibe, dass ich mit meiner kleinen Familie zwei große fette Schweine, die in der Mastzeit wenigstens noch zehn Sächsische Scheffel Gerste fressen, eine fette Kuh, alle Butter, Käse und Milch von drei Kühen, dazu noch einige hundert wilde Enten und Schneppen und 25 bis 30 Hasen, dazu noch eine Menge Hechte, Barsche und Bleien, welches Wild und Fisch, ich alles selbst erlege und fange, das Jahr hindurch gehörig verbrauche.
Verwundere mich sehr, dass der Carl schon fünf Kinder hat, ebenso dass der Bernhard so ein großer Kerl geworden ist, ich meinte, es könnte beides nicht sein, aber wenn ich meine Familie betrachte, so zahle ich auch schon drei Kinder, und zwar der Älteste, Robert ist 5 Jahre alt, die Zweite, Emilie, 3 Jahre, und die Jüngste, Albine, dreiviertel Jahr alt, meine Kinder sind jetzt alle drei recht gesund und wenn Ihr sie sehen solltet, Ihr würdet sie als rechte Huth-Gesichter erkennen; freuen würde mich sehr, wenn mich eines meiner Geschwister einmal besuchen würde, was wohl dem Bernhard am ehesten sein würde; da meine Familie immer stärker wird, so werde ich wohl auf einen Besuch bei Euch verzichten müssen, bis. meine Kinder einmal groß sein werden.
Herzlich hat es, mich gefreut, dass sich außer meinen Angehörigen in der Heimat auch noch andere Leute für mich interessieren, und vor allen anderen bitte ich den Hr. Etzdorf, Hr. Roth, Familie Zantner, Adolph Haupt und andere herzlich von mir zu grüßen.
Die Reisebeschreibung von Südrussland, die Hr. Etzdorf dem Carl brachte, wird wohl die "Kohl'sche" sein, welche mir auch zu Händen gekommen ist, sie beschreibt die Odessaer Gegend und Kolonien und hat manches mit der hiesigen Gegend und Kolonien gemein, manches auch verschieden, so ist der Hauserbau wohl besser als in den Dörfern in Sachsen, erstlich sind die Kolonien regelmäßig angelegt, jede Kolonie bildet eine breite Gasse, auf beiden Seiten alle 15, in manchen Kolonien alle 20 Faden auseinanderstehen die Hauser, welche früher in den ersten Jahren in Ermangelung von Ziegelbrennereien von Luftziegel aufgeführt und mit Stroh gedeckt wurden, jetzt die Hauser, alle von gebrannten Ziegel, auf ein 1 1/2 bis 2 Fuß oberhalb der Erde stehendes Fundament von schön bearbeiteten Quadratsteinen, welche ungefähr 70 bis 80 Wersten von hier gebrochen werden und dauerhafte kalksteinartige Steine sind, gebaut und meistenteils mit Dachpfannen gedeckt; Privathäuser stehen meistenteils mit der Giebelseite nach der Straße, Gemeindehäuser, als Schulen und dergleichen, alle mit der Fronte nach vorne.
Anbei schicke ich Euch die Ansicht des hiesigen Schulhauses und somit meiner Wohnung (Nr. 1). Das Haus steht von Südwest nach Nordost, der rechte Flügel bildet die Schulstube mit 9 Fenster am Giebel, auf beiden Frontseiten 13 Fenster, der linke Flügel bildet vorne nach der Straße die große Wohnstube, nach hinten Kammer und kleine Stube. Das Haus wurde 1847 von gebrannten Ziegeln neu erbaut, und ist eine recht freundliche Schule und Wohnung, die innere Einrichtung der Schulstube ist so wie bei Euch in der neuen Schule. Nr. 2 stellt ein wirtschaftliches Gebäude und Stall und Scheune dar, und Ihr werdet finden, dass die Bauart hier so schlecht nicht ist. Vor den Häusern nach der Straße ist überall ein Blumengärtchen, dieses regelmäßig von einem Ende zum anderen Ende des Dorfes und so auf beiden Seiten mit Staket- oder Bretterzaun eingezäunt; die Straße (führt) also durch einen langen Blumengarten, diese und manche andere Einrichtung konnte nur geschehen, weil die Kolonisten unter der Aufsicht eines Fürsorge-Komitees stehen, deren Befehle sie genau erfüllen und von allem Rechenschaft ablegen müssen, jeder Wirth hat hier 60 Desjatinen (Morgen) Land. Reizend ist die hiesige Gegend wie alle Steppengegenden freilich nicht zu nennen, doch ist sie vielleicht die reizendste aller Steppengegenden. Die Molotschna durchzieht die Fluren und bewässert die Wiesen, Garten und Waldanlagen, von den Kolonisten angelegt,- erheben sich allenthalben und bieten einen imposanten Anblick dar; das benötigte Bauholz holt man am Flüsse Dnjepr und kommt auf (unleserlich).
Zum Heizen hat man Stroh und Mist, nämlich Schaaf- oder Kuhmist. Derselbe wird ... (mehrere Worte unleserlich) und gut durchgetreten, in Form eines Quadrat-Fußes ausgestochen, und getrocknet und liefert ein besseres Heizzeug als bei Euch die Loh-Kuchen. Das Land braucht man hier nicht zu düngen, es trägt (mehrere Worte unleserlich); aber der Regen darf nicht fehlen, und dies geschieht nur zu häufig, besonders war dies in diesem Jahr der Fall, im Sommer versengt zuweilen ein brühheiser Wind alles was grünt, und im Winter macht ein scharfer Nord- oder Ostwind die Kälte fast unerträglich, Schnee fällt hier wenig und der fällt (hier fehlt etwas) fegt der Wind, so dass hier selten einige Tage Schlittenbahn ist.
Ich muss nun hiervon abbrechen, denn der (Brief-)Bogen geht zu Ende, ich wollte gerne ein Briefchen an Ollo Göbel beilegen, da ich aber diese Ansichten der Gebäude beigelegt habe, so fürchte ich, ich muss doppeltes Porto zahlen, also werde ich es verschieben bis auf das nächste Mal, welches - wie ich hoffe - nicht lange dauern wird, denn sobald ich einen Brief von Euch erhalte, werde ich ihn gleich beantworten. Grüßt den Olle vielmal und sagt ihm, dass ich das nächste Mal ein Briefchen von ihm erwarte. Grüßt auch alle Verwandte, Freunde und Bekannte von mir, besonders auch den Hr. Gerhard und schreibt doch recht bald recht viele Neuigkeiten, besonders viel von meinen Bekannten und was besonders unserer Familie geschieht, ob sich die Agnes noch nicht verheiratet hat und dgl. Schickt mir doch auch ausführliches Rezept, wie man die Fische bei Euch siedet, hier werden sie gebraten oder gekocht. Derlei schmeckt mir aber nicht so gut wie die gesottenen.
Ich muss schließen und unter vielen herzlichen Grüßen an Euch alle von mir, meiner Frau und Kinder verbleibe ich
Euer Euch liebender Bruder und Schwager
F. Huth
Adresse ist dieselbe wie bisher: Kolonie Alt-Nassau    4./15.Februar 1851