Beitragsseiten

Brief vom 4. Juni 1847 d. St. - Tokmak

Vielgeliebte Geschwister!
Eure Briefe vom 1. Mai erhielt ich gestern Abend als den 3. Juni, groß war mein Schreck, als ich das schwarze Siegel erblickte, mir ahnte gleich was vorgefallen war, mit herzlichem Bedauern vernahm ich, welch unersetzlichen Verlust wir durch den Tod unserer Vielgeliebten Mutter erlitten. Zwar ist sie nun allen Erdensorgen enthoben und ruhet sanft in Gott, allein für uns Hinterlassene ist es schwer, sich in einen solchen Verlust zu fügen, doch wollen wir auch Gott danken, dass er sie ohne schmerzliches Krankenlager und sanft von dieser Welt abrief.
Lieber Bruder, herzlich gern hatte ich Dir gleich auf Deinen Brief vom 2. Dezember, weichen ich gerade an Weihnachtsheiligabend erhielt, geantwortet, allein es lag mehr an den Umständen als an mir, dass dies nicht geschah. Ich ersah nicht nur aus Deinem Briefe, sondern las auch in der Zeitung, welche Not Deutschland und andere Länder drückte, ich nahm mir daher vor, der Mutter eine Unterstützung zu schicken. Da ich mir aber vorigen Herbst der teuren Miete wegen (ich zahlte 90 Rubel aufs Jahr) ein Haus, welches ebenso gut ist als das, welches ich zur Miete bewohnte, für 250 Rubel kaufte, machte ich mich nicht nur ganz blank, sondern musste zu meinem Geschäft auch noch etwas Geld aufnehmen, denn der vorjährigen Missernte wegen, war das Verdienst äußerst schlecht. Vergangenes Jahr hatten wir hier eine überaus segensreiche Ernte, und es gab gleich wieder ein reges Leben. Ich beabsichtigte daher in Kürze etwas zu ersparen, um es der Mutter zu schicken, da wurde mir von der Gemeinde Alt-Nassau der Schuldienst daselbst angetragen. Ich hatte anfangs nicht Lust ihn anzunehmen, doch aber auf vieles Zureden von Seiten unseres Pastors, mit dem ich gut bekannt bin, entschloss ich mich dazu, konnte jedoch aber wegen der Frühjahrs-Überschwemmung und später wegen allzu schlechter Wege nicht sobald Kontrakt mit der Gemeinde Alt-Nassau schließen. Die Gemeinde hat sich nämlich einen Schullehrer zu wählen und zuzusehen, wie sie mit den Bedingungen des Lehrers fertig wird, und der Pastor gibt seine Bestätigung dazu, und so vergingen wieder einige Wochen. Ich wollte Euch doch auch von allem recht ausführlich Mitteilung machen. Als ich nun mit allem zustande war, und es ans Schreiben gehen sollte, wurde ich plötzlich krank, und meine Krankheit verschlimmerte sich so, dass ich am 30. Tage morgens völlig hinstarb, das Bewusstsein verlor sich, der Atem blieb aus, alle Glieder verkrampften sich und ich wurde steif, der kalte Schweiß rann mir in großen Tropfen von der Stirn. Dieser Zustand soll eine halbe Stunde gedauert haben, dann kehrten die Lebenskräfte allmählich wieder zurück. Der herbei geholte Arzt schlug mir gleich Ader, aber es kam kein Blut. Bei der zweiten ging es ebenso, nur nach vielem Erwärmen gelang es dem Arzt nach einigen Stunden beim 3. Aderlass, dass das Blut floss. Es wurde mir dadurch etwas leichter, ich lag jedoch noch 14 Tage in halbem Unbewusstsein, ich litt an der Lungenentzündung, welche mit Fieber verbunden war. Zuletzt bekam ich das Fieber noch einmal recht herzhaft und meine Krankheit war gehoben. Da ich aber die ganze Zeit meiner Krankheit gar nichts gegessen hatte, war ich so schwach, dass ich noch mehrere Tage das Bett hüten und dann noch beinahe 14 Tage so herumschleichen musste. All mein Vorrat an Waren war mir während dieser Zeit ausgegangen. Ich machte mich den Tag vor Himmelfahrt das erste Mal wieder an die Arbeit. Es war ein schöner warmer Tag, einige Tage vorher hatte ich mir den Schnupfen zugezogen, gegen Mittag kam mit einem Mal ein starker echt sibirischer Wind begleitet mit Hagelwetter, mich überfuhr ein kalter Schauer, mein Schnupfen war auf der Stelle weg, und mir lag es gleich in allen Gliedern, dass ich kaum noch bis in die Stube gehen konnte. Ich trank sogleich Holundertee und schwitzte tüchtig, allein es half nichts, ich bekam den anderen Tag das kalte Fieber. Anfangs hatte ich es immer einen Tag um den anderen, jetzt bekomme ich es alle Tage, und so stark, da ich es immer gleich des Morgens bekomme, ich bis abends 3 bis 6 Uhr liegen muss. Gestern Abend, es war der Fronleichnamstag, war ich soeben aufgestanden, als ich Deinen Brief und die Todesnachricht der Mutter erhielt. Der Schreck hatte mich bald wieder zum Liegen gebracht. Das Fieber ist hier allgemein. Es ist keine sehr lebensgefährliche Krankheit, aber sie schwächt Geist und Körper fürchterlich. Man hat Falle, dass sich Leute 2 Jahre damit herumschlagen mussten.
Nun liebe Geschwister, etwas von meinem Schuldienst Den 1. September muss ich in Alt-Nassau einziehen. Alt-Nassau ist eines der ersten Dörfer. Es liegt von hier 100 Wersten, und von Prischib, wo die Kirche und das Gebietsamt sind und wo jährlich drei Mal Jahrmarkt gehalten wird, nur 2 Wersten. Ich habe 80 Kinder, Groß und Klein, 4 bis 5 Monate im Lesen, Schreiben, Rechnen und Singen zu unterrichten, dabei habe ich die Schulzenschreiberei mit zu versehen, jahraus, jahrein Sonntags Kinderlehre, Leichenpredigen und im Winter bei sehr schlechter Witterung auch Gottesdienst zu halten. Die Länge der Schulzeit richtet sich nach dem Wetter. Anfangs Oktober beginnt die Schule und dauert bis Frühjahr schönes Wetter wird, bis die Schafe können ausgetrieben werden und bis der Bauer pflügen kann, dann braucht er seine Jungen selber. Den Sommer kann ich meine Seilerei dabei treiben. Ich bekomme an Gehalt 200 Rubel, ferner von jedem Wirt 3 Maaß Getreide, (ein Maaß ist so viel wie 1/4 Scheffel, und 59 Wirt sind) nämlich 1 Maaß Weizen, 1 M. Korn und 1 M. Gerste, eine schöne Wohnung mit 2 großen Zimmern und Kammer im Schulhause, frei Feuerung, Heu für paar Kühe durchzuwintern, und noch einen sehr großen ganz mit tragbaren Obstbäumen bepflanzten Garten am Schulhause zur Nutznießung. Seit einigen Wochen habe ich einen Gesellen, einen Sturkater. Ein Glück für mich, da ich jetzt so nicht einen Schlag arbeiten kann. Er hat Lust, sich hier zu etablieren, er hat schon zuhause geschrieben an seine Vormünder, sie sollen ihm die Hälfte seines Vermögens schicken, (wie er angibt hat er 4000 auf Zinsen). Wenn er Geld hereinbekommt, wird er mir ein Haus abkaufen und die Seilerei hier gleich fortsetzen; die Getreideausfuhr von hier nach England und Frankreich überstieg dieses Jahr alle Grenzen. Nach der Ernte kostete hier der Tschetwert (2 Scheffel) Weizen 14 Rubel, etwas über 4 preuß. Thaler, das Korn kostete 6 Rubel, Gerste 6, jetzt sind die Preise wieder etwas gesunken, die diesjährige Aussicht auf eine gute Ernte kann nicht besser sein als sie jetzt ist.
Von wegen der Teilung, lieber Bruder, könnt Ihr es halten wie Ihr wollt, ich mache nicht im geringsten Ansprüche auf irgendetwas, und verzichte gänzlich auf meinen Teil, ich werde noch eigens ein paar Zeilen einlegen, damit Ihr den H.E. Assessor es herzeigen könnt. Meine silbernen Löffel, lieber Bruder, kannst Du zu Dir nehmen, es können Fälle kommen, wo ich Euch mal Unkosten machen müsste welche dann mit den Löffeln könnten gedeckt werden. Die Agnes schrieb mir, dass sie Lust hat hierher zu reisen. Eine anständige Versorgung würde sich wohl finden, aber auf weiche Art würde sie als Frauenzimmer diese weite Reise machen. Zwar fahren alle Jahr Mennoniten von hier zum Besuch nach Preußen, erst diese Woche sind 3 Wagens wieder abgefahren, diese halten sich zwar einige Monate in der Niederung bei Elbing in Ostpreußen auf, da könnte sie sehr gut mit hereinkommen, aber die Zeit würde ihr doch zu kurz werden, ich werde nächstens nach Leipzig schreiben und Ihr mit allem bekanntmachen.
Nun liebe Geschwister muss ich schließen, in der Hoffnung, dass Ihr Euch recht einig in das bisschen Hinterlassenschaft teilen mögt, verbleibe ich Euer Euch stets liebender Bruder
Franz Huth
N.B.
Von 1. September an ist meine Adresse
F. Huth
Schullehrer in der Kolonie Alt-Nassau bei Melitopol
in Gouvernement Taurien in Südrussland.
(adressiert an:
Herrn Carl Huth, Porzellanmaler
in Pößneck im Herzogtum Sachsen-Meiningen)