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Brief vom 17.? 1871 - Hoffenthal (Brief muss aus dem frühen Frühjahr stammen)

Vielgeliebter Bruder!
Mit tiefen Bedauern habe ich und meine Familie Dein herbes Schicksal aus deinem von 25. September v. J. datierten Briefe vernommen und ist dasselbe wohl auch der Grund, dass ich so lange ohne Nachricht von Euch blieb. Schon lange - und hauptsächlich seit Oktober (?) quält mich meine Frau, Euch zu schreiben. Da ich aber entschlossen war, Euch durch mein persönliches Erscheinen zu überraschen, so unterließ ich es. Ich hatte nämlich fest bestimmt, im Herbst 1869 hin auszureisen, musste aber zuvor nach den Mariupollschen Kolonien fahren, um einige Ausstände, die nicht sicher standen, und der Zahlungstermin um war, einzukassieren. Der eine Posten von 200 Rubel Silber ging mir durch Fallissement zur Hallte verloren und den anderen Posten von 900 Rubel nicht ganz zu verspielen, musste ich gerichtlich einschreiten. Dies zog sich bis in Winter hinein, ehe ich mein Geld bekam, und die Reisezeit war vorüber. Nun wurde beschlossen, zum Herbst 70 zu reisen. Unterdes brach der Krieg aus, und aus Furcht vor Aufenthalt und Scherereien auf der Reise blieb ich wieder zuhause. Gott weiß, was der nächste Herbst bringt.
Ein Unwetter in der Pontusfrage hängt wieder in der Luft, doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Wenn ich leb' und gesund bleib', besuche ich Euch so bald als möglich, die Mittel erlauben mir dies jetzt, denn obgleich mir der Haushalt und Familie jährlich wenigstens 1000 Rubel Silber kostet, so habe ich diese Jahre her mit meinem Kokonhandel so viel verdient, dass ich mir ein nettes Sümmchen zurücklegen konnte. Auch habe ich mir diesen Winter hier ein geräumiges Wohnhaus mit Stallung mit Remise für 1200 Rubel Silber gekauft; gesund sind wir insgesamt ebenfalls gewesen, und ich müsste freveln, wenn ich klagen wollte.
Mein ältester Sohn Robert, 24 Jahre, 8 Monate, ist noch ledig, Emilie, 22 Jahre, 6 Monate, hat sich vorigen Herbst an einen hiesigen Kolonist, Mühlenbesitzer Johann Nürnberg verheiratet, Albina, 20 Jahre, 8 Monate, ist noch zuhause, Otto, 18 Jahre, 5 Monate, geht in die Kreisschule zu Melitopol, 50 Wersten von hier. Die übrigen habe ich alle zuhause, als: Emma, 16 Jahre, 2 Monate, Bertha, 14 Jahre, Adolph, 12 Jahre, 3 Monate, Mathilde, 10 Jahre, Karolina, 7 Jahre, 9 Monate, Ferdinand, 5 Jahre, 9 Monate, und endlich Amalie: 2 Jahre, 7 Monate. Summa Summarum 4 Knaben und 7 Mädchen.
Wir haben diesen Winter ein tolles Wetter gehabt, den ganzen Vorwinter bis gegen Ende Januar hatten wir abwechselnd einen Tag Regen, den anderen Tag 10-12 Grad Kalte, mehrmals in einem Tag solchen Wechsel. Dann trat bei 10 bis 14 Grad Kälte beständiges Wetter ein. Ich trat damals zu Wagen, Schnee hatten wir keinen, eine Geschäftsreise ins Gouvernement Cherson an und kam 130 Werst von hier bis an den Dnjepr-Fluss, als Schneesturm eintrat, ein Ereignis, wovon Ihr Euch keinen Begriff machen könnt, der Schnee, so fein wie Nebel, fällt so dicht, dass die ganze Luft verfinstert ist und wird vom Sturm auf der Erde fortgejagt, bis er wieder Halt findet, wo er sich zu ungeheuren Massen auftürmt. Dies geschah Sonntag, den 24. Januar a. St., montags war das Wetter ruhig.
Allein vorwärts zu fahren, wäre ein Wagnis gewesen, und so kehrte ich um und fuhr den Tag bis zu einem befreundeten deutschen Gutsbesitzer, wo ich nächtigte. Dienstagsmorgen, als ich wieder abfahren wollte, fing es aufs Neue wieder an zu stürmen, so nennt man hier nämlich den Schneesturm, und ich gab den Mahnungen meines Gastfreundes willig Gehör und blieb, und das war für mich und für meinen ältesten Sohn, den ich bei mir hatte, und für meine Pferde Rettung vor sicherem Tode. Denn das Unwetter hielt bei 26 bis 30 Grad Kälte mit unerhörter Heftigkeit drei mal 24 Stunden an. Wer sich auf freier Steppe befand und nicht durch ein Wunder gerettet wurde, kam um; durch obrigkeitliche Verordnung müssen überall, Tag und Nacht, während solchen Unwetters die Glocken gelautet werden, dadurch rettete sich auch diesmal mancher, aber sehr viele Menschen und Pferde fanden ihren Tod. Viele Vermisste werden noch aufgefunden werden, wenn erst der Schnee ganz fort sein wird. Wir haben wohl schon seit 8 Tagen abwechselnd Tauwetter gehabt, aber der Schnee ist noch lange nicht aller geschmolzen.
Nun, lieber Bruder, muss ich auf Dein Unglück zurückkommen. Als ich Deinen schwarz gesiegelten Brief erhielt, traten mir die Tränen in die Augen und konnte ich mich nicht sogleich entschließen, ihn zu brechen, denn ich glaubte sicher, einer von Deinen oder dem Louis sein Sohn wäre im Felde geblieben, denn kein Tag ist seit Ausbruch des Krieges verflossen, wo wir hier nicht davon gesprochen und uns Auskunft gewünscht hätten, ob Eure Söhne mit im Felde seien. Und bei jeder Schlachten- und Siegesnachricht fürchteten wir, unter den Gefallenen könnte einer der lieben Eurigen sein. Stattdessen vernahm ich nun, dass Dir der Tod Deine liebe Frau entrissen hat. Ich habe mich die Jahre her schon innig gefreut und mir im Geiste die unverhoffte Überraschung meines Besuches vorgestellt, nun treffe ich Deine liebe Frau schon nicht mehr an. Möchte Euch Übrige nur Gott behüten und gesund erhalten. Und Du, lieber Bruder, darfst Dich überhaupt dem Gramm nicht so ganz ergeben, damit änderst Du nichts, auch würde es wohl sehr ratsam sein, wenn Du Deine Augen schonen könntest, ich denke, Deine materiellen Umstände erlaubten Dir, Deine augenanstrengende Arbeit aufzugeben, von Arbeiten allein wird man nicht reich. Ich habe früher viel gearbeitet und nichts erübrigen können, seit Jahren arbeite ich nicht mehr und stehe mich gut dabei.
Dass es meinen übrigen Geschwistern so weit gut geht, hat mich sehr gefreut, nur von Robert schreibst Du mir nichts. Auch von der Emma ihren Kindern gib mir doch Auskunft, wenn Du wieder schreibst. Die müssen doch auch schon bald groß sein?
Wie kam es, dass Dein ältester Sohn und dem Louis seiner nicht zum Krieg einberufen wurden? Die deutschen Siege haben unter der hiesigen deutschen Bevölkerung großen Enthusiasmus hervorgerufen, leider wurde durch obrigkeitliche Verordnung den Kolonisten verboten, Kollekten zu veranstalten, was mich aber nicht abhalten ließ, unter den hier lebenden Ausländern/Deutschen zu kollektieren, ich stellte mich mit 25 Rubeln, mein ältester Sohn mit 10 Rubeln, an die Spitze. Und das Ergebnis betrug 150 Rubel. Auf meine Veranlassung kamen auch in dem benachbarten Halbstadt durch Ausländer 150 Rubel zusammen, welches ich vor Weihnachten an das General-Konsulat nach Odessa zur Übermittlung an das Berliner Centralcomitee für verwundete Soldaten und der Witwen und Waisen der im Krieg Gefallenen übersandte.
Wie ist bei Euch jetzt das Militär-Reglement in Friedenszeiten, findet einjähriger freiwilliger Dienst statt und unter welchen Bedingungen? Um meinen Kindern das Heimatsrecht zu erhalten, habe ich Lust, außer den Ältesten die drei Jüngeren zur Ableistung ihrer Militärpflicht nach Deutschland zu schicken, mein zweiter Sohn Otto ist jetzt 18 1/2 Jahre. Wann kann der seine Dienstzeit wohl antreten?
Zwei Wersten von hier in Halbstadt waren zwei Fabrikmeister aus Crimschau, Webermeister Förster und Spinnmeister Zäumer, die waren draußen engagiert, eine Tuchfabrik hier einzurichten, waren zwei Jahre hier und reisten vorigen Jahres wieder nach Hause. Sie versprachen, Euch gelegentlich zu besuchen. Sollte Dich oder den Louis einmal der Weg dort hinführen, so besucht sie, sie würden sich sehr freuen. Mich haben sie sehr oft besucht. Die Adresse von Bernhard werde ich benutzen und ihm demnächst schreiben.
Sind in dieser Zeit, dass ich keine Briefe erhalten, auch Verwandte gestorben? Leben die Heinerke noch alle und was machen wohl den Onkel in Roßla seine Söhne? Wenn Du mir wieder schreibst, was hoffentlich recht bald geschehen wird, schreibe mir doch recht viel von unseren Verwandten und meine ehemaligen Bekannten. Grüße mir auch alle, die mir nahestanden, meinen Meister Gehrhard nicht zu vergessen. Ich freue mich unendlich, die Aussicht zu haben, bald die liebe Heimat wiederzusehen, freilich wird mir alles fremd vorkommen und selbst meine alten Bekannten werde ich nicht wiedererkennen. Wenn ich komme, werde ich die Photographien von meiner ganzen Familie mitbringen. Da ein naher Friede in Aussicht steht, so wird, bis Du mir wieder schreibst, auch Dein Sohn aus Paris zurück sein. Und dann schreib mir von seinen Erlebnissen, Heldentaten auszuüben wird ihm gottlob nicht mehr Gelegenheit geboten worden sein.
Ich muss nun schließen und wünsche nur, dass Du nach so schweren Prüfungen noch lange Jahre in Ruhe und Frieden leben möchtest, grüße Deine ganze Familie sowie alle meine Geschwister und deren Familien recht vielmals von mir, meiner Frau und Kindern und lass mich in Deinem nächsten Briefe doch recht viel Erfreuliches hören, dies wünscht Dein Dich liebender Bruder
Franz Huth