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Brief vom 12./24. Februar 1858 - Alt-Nassau

Meine lieben Geschwister!
Ihr werdet wohl nicht ganz unbesorgt um mich gewesen sein, weil ich so lange nicht habe von mir hören lassen. Das Sprichwort: „Anderer Leute Mäuse fangt er und seine lässt er laufen“, bewahrte sich auch an mir, denn den ganzen Winter habe ich mich ausschließlich mit Schreiberei für andere Leute beschäftigt, und an Gesandtschaften, Regierungen, Gerichte und Privatpersonen jeder Art und Standes geschrieben und dabei unterlassen, Euch Nachricht von mir zu geben, aber auch Ihr werdet die Erfahrung schon gemacht haben, dass wenn erst eine Sache ins Hängen kommt, sie sich auch gern in die Lange verzieht. Deinen Brief, lieber Karl, d. d. 25. Dezember 1856 empfing ich den 12./24. Januar 1857 und traf mich und meine Familie im besten Wohlsein an, meine Frau sah ihrer 6ten Niederkunft entgegen, diese wollte ich auch abwarten, um Euch Nachricht zu geben, am 3./15. Marz wurde meine Frau nun von einer Tochter entbunden, die den Namen Bertha erhielt, diese lauft jetzt schon allein in der Stube herum und erinnert mich täglich an meine Schuldigkeit.
Heute haben wir hier Buß- und Bettag, und diesen benutze ich, Euch den zu Ostern v. J. erbetenen Brief zu schreiben, damit Ihr ihn doch wenigstens noch Ostern d. J. erhaltet. Freude machte es mir, lieber Karl, aus Deinem Briefe zu ersehen, dass alle meine Lieben in der Heimat gesund und wohl waren, und gewundert habe ich mich, dass sich die Agnes mit einem Militär verheiratet hat; meinen Ansichten nach kann kein gemeiner Soldat eine Frau ernähren, und aus dem Briefchen der Agnes ist nicht zu ersehen, dass ihr Mann einen Rang besitzt, im Übrigen ist dieselbe nicht mehr so jung und mir auch nicht als flatterhaft oder unbesonnen bekannt, dass sie sich so in den Wind hinein an einen Mann gebunden haben sollte, ohne Aussicht auf einen genügenden Unterhalt zu haben, gib Du mir doch, lieber Bruder, über diesen Punkt näheren Aufschluss.
Und nun, wie steht's mit dem Bernhard? Ist er verheiratet und bleibt er in Jauer und unter welchen Verhältnissen hat er sich selbst etabliert, oder arbeitet er für andere Meister, wie es auch in Pößneck Meister gibt? Wenn Du mir hierüber Nachricht gibst, schicke mir doch auch seine Adresse, damit ich ihm auch einmal schreiben kann. Du schreibst mir von einer Eisenbahn, welche dicht an Pößneck vorbeigehen wird, auch wir bekommen hier eine Eisenbahn, die dieses Frühjahr in Angriff genommen wird und von Moskau nach Feodosia in der Krim geht und dicht bei uns vorbei gehen wird, eine Gesellschaft von in- und ausländischen Kapitalisten wird dies Unternehmen ausführen.
Wie viele Veränderungen mögen in Pößneck vorgegangen sein, seit ich da fort bin, ich würde, wenn es mir vergönnt sein sollte, noch einmal da hin zu kommen, mich daselbst kaum zurechtfinden und die Leute nicht mehr kennen; Kinder, die damals kaum einige Jahre alt waren, sind jetzt verheiratet oder heiratsfähig, dem Heinrich Gerhard drehte ich sein Meisterstück, arbeitete bei ihm, als seine ersten Kinder geboren wurden und wiegte sie unzählige Male auf den Knien, und jetzt sind es heiratsfähige Mädchen, und noch ein solcher Zeitraum und sie ergrauen oder sind gar schon tot, bei solchen Gedanken wird man lebhaft an die Worte Davids erinnert.
Dass Du trotz teurer Zeit so viel erspart hast, ein Haus für 2.100 Gulden kaufen zu können, machte mir große Freude und gereicht Dir und Deiner Frau zu Ehren und zeugt von einer guten Wirtschaft; dass es aber der Emma nicht gut ergeht, bedauere ich recht sehr; da ich nun in Gedanken bei der Emma in Leipzig bin, muss ich Dich benachrichtigen, dass ich mir schon fast den Kopf zerbrochen habe über alles Grübeln, wer wohl der Russe gewesen sein mag, der sich bei den Pößnecker Gerbern auf der Ostermesse nach Euch erkundigt hat, können vielleicht besagte Gerber Auskunft geben, in was für Geschäften der Fremde in Leipzig war, wie er ausgesehen und wie alt er ungefähr war und wo er ist? Gib mir doch wo möglich auf diese Fragen Antwort.
Wenn Du nach Börden (?https://de.wikipedia.org/wiki/Bürden?) oder Rentwertshausen kommen solltest, so erkundige Dich doch in Eisfeld nach Kaffenberger, ich habe noch keine Nachricht von ihm erhalten, ein Zeichen, dass es ihm in Amerika nicht gut geht oder er gar tot ist.
Nun zur Beantwortung Deiner Fragen: Von hier zu Land nach Odessa sind ungefähr 450 Wersten, die man in 5 Tagen fährt. Und von Odessa nach Konstantinopel fährt man mit dem Dampfschiff in 24 Stunden. Außerdem kann man von dem 100 Wersten von hier am Asowschen Meere gelegenen Berdjansk zu Dampfschiff durchs Asowsche und Schwarze Meer nach Odessa in einigen Tagen fahren; dem ungeachtet haben wir nicht den geringsten Verkehr mit den Türken, und so lange ich hier bin, habe ich nicht ein einziges Mal gehört, dass einer von hier nach der Türkei gereist sei. Tataren, Armenier, Griechen, Karäer (türkische Juden) und Bulgaren, welche Völkerschaften aber insgesamt in der Krim wohnhaft sind, kommen in Geschäften zu (nicht leserlich) Zeiten hierher, und ganz in unserer Nachbarschaft wohnen die Nogaier (Nogaier Tataren, die sich mit Viehzucht und etwas Ackerbau beschäftigen, vor 50 Jahren aber noch als Nomaden herumzogen.)
Wenn Du mir wieder schreibst, benachrichtige mich doch, wie das Geschäft beim Louis geht und was der Robert und seine Frau macht und wie sich letztere führen, wo steckt Theodor Heinerke und was treibt er? Grüße alle meine guten Freunde vielmals von mir. Dabei vergiss aber namentlich Deine Schwägerin Katharine, Deine beiden Schwager Lehrer Englert, Hl. Gehrhardt und Lehrer Roth nicht und sei so gut und übermache der Schwester Agnes beiliegende paar Zeilen von mir.
Nun zum Schlusse muss ich Dich noch benachrichtigen, dass trotz der guten Ernte auch hier noch ein enormer Preis der Lebensmittel existiert, das Tschetwert Weizen kostete im Herbst noch 7 Rubel Silber. Jetzt stockt der Getreidehandel, und man kann Weizen zu 6 Rubel, Roggen zu 4 1/2 Rubel, Gerste zu 2 Rubel Silber kaufen, da ein Tschetwert fast noch einmal so viel ist als ein Dresdner Scheffel, so ist der Preis lange nicht so hoch als bei Euch, aber in hiesiger Gegend doch etwas unerhörtes und drei Mal so hoch als vor 12 Jahren.
Nun muss ich schließen, und mit dem Wunsche, dass Euch dieser Brief insgesamt und wohl antrifft verbleibe ich unter tausend herzlichen Grüßen von mir, von meiner Frau und Kindern an Euch alle, meine lieben Geschwister, Schwäger und Verwende Euer Euch stets liebender Franz Huth
Lieber Bruder Louis
Nachdem ich meinen Brief geschlossen, fällt mir gerade noch zur rechten Zeit ein, dass man vermittels eines Couverts auch noch die Außenseite benutzen kann, dieses Mittel wende ich immer an, um einige Zeilen an Dich zu richten, um mich nach Deinem und Deiner Familie Ergehen zu erkundigen. Aus des Karls Brief habe ich ersehen, dass Du mit Deiner Frau, dem lebenslustigen Röschen, nur zwei Kinder hast, welches gegen allen Brauch und Vertrag der Huth'schen Familie ist, was Du auch in unserm Stammbaum finden kannst. Ich habe bereits sechs Kinder, alle frisch und munter und bin doch noch um mehrere Jahre jünger als Du, lass mich erst so alt werden als Du bist, so kann ich Dir vielleicht statt 1/2 Dutzend ein halbes Mandel (Bem. der Red. engl. großes Dutzend =15) ankündigen.
Wie geht Dein Geschäft und wie befindest Du Dich mit Deiner lieben Frau? Hat sich Pößneck sehr verändert, ist vielleicht viel gebaut worden und wo namentlich? Wie geht das Geschäft bei Deinem Nachbar Gehrhardt, gedenkt er auch noch zuweilen meiner? Grüße ihn und seine Töchter vielmals von mir, letztere werden sich meiner aber wohl schwerlich mehr erinnern, vielleicht höchstens die Bertha, die war bei meiner Abreise vielleicht drei oder höchstens vier Jahre alt. Wo sind die beiden jüngsten Bärkerstöchter Dir gegenüber geblieben? An wen sind wohl die beiden jüngeren Töchter des Tuchmachers, Thaimann glaube ich, hieß er, er wohnte auf dem oberen Graben bei der neuen Schule gerade hinauf, verheiratet? Du wirst Dich wundem, dass ich mich für dieselben interessiere und nicht einmal den Namen mit Bestimmtheit angeben kann. Allein, es geht mir mit allen so, wenn ich so sitze und an die liebe Heimat denke, ist mir alles wie ein Traum, und ich muss mich lange besinnen, ehe ich den einen oder den anderen bekannten Namen herausfinden kann, auch wenn mir der Karl von den oder jenen schreibt, kann ich oft dessen Familie nicht herausfinden; es wird also hohe Zeit, dass ich bald mal nach Hause komme und alles wieder im Gedächtnis auffrische, was der Flug der Zeit beinahe verwischt hat. Ich hoffte immer, es würde sich einmal ein Pößnecker hierher verirren, mit welchem ich von der Heimat und seinen Bewohnern mich hätte unterhatten können, aber diese Hoffnung werde ich wohl aufgeben müssen. Der Plan, über kurz oder lang mal eine Besuchsreise zu Euch zu machen, ist bei mir noch nicht aufgegeben.
Ich muss nun schließen, und unter vielen herzlichen Grüßen an Euch und alle Bekannte und Freunde verbleibe ich Dein Dich liebender Bruder
Huth